Sensible Oberflächen (Gruppenausstellung)

Monitoring – Myth and Microgravity Kasseler Kunstverein 2021

Seit mit Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Amateurkameras der Marke Kodak auf den Markt kamen, wurde es mehr und mehr Menschen möglich, die eigene Geschichte und Erinnerung durch Fotografien zu formen. Mit der Entwicklung ins Digitale hat die Fotografierwut nochmals rapide zugelegt. Milliarden von Menschen haben Smartphonesund Instagram, täglich werden hunderte Millionen Bilder hochgeladen. Bilder, die der Inszenierung des Selbst dienen, die verkaufen wollen oder anderen Bildern nacheifern. Auch die Möglichkeiten der digitalen Bearbeitung sind so mannigfaltig wie intuitiv geworden. Das private Bildarchiv wird am Körper getragen wie ein cyborgsches Gadget. Die Frage, ob die Fotografie ein Abbild der Wirklichkeit darstellt, ist heute für viele uninteressant. Zu offensichtlich ist auch für Laien, wie sehr eigene Perspektive, Komposition, Bildauswahl und Retusche die Wahrnehmung beeinflussen.

Interessanter ist, was die Bilder mit uns machen und wie wir mit ihnen umgehen. Bernd Oppl geht in seiner Arbeit SENSIBLE OBERFLÄCHEN dieser Frage nach, indem er hunderte Szenen aus Filmen und Fernsehserien untersucht. Sie zeigen die Rituale, Gesten und Handlungen, die sich im Umgang mit Fotografien in unseren Alltag eingeschrieben haben und zu elementaren Merkmalen bestimmter Filmgenres geworden sind.

Die Entstehung von Fotografien wiederum wird in der Arbeit HELLE KAMMERN reflektiert. Bei den kleinen Silikonskulpturen auf leuchtendem Untergrund handelt es sich um Abgüsse der Lichtschächte von Kameras – den Räumen zwischen Objektiv und lichtempfindlichem Film oder Sensor, die im unsichtbaren Bereich der Kamera liegen und nur für eine bestimmte Zeit geöffnet werden, um die jeweils gewählte Menge an Licht einzulassen. Der Titel verweist auf die Schrift Roland Barthes, die zu einem Standardwerk über die Wahrnehmung von Fotografien geworden ist. Das Innere der Kamera, das uns sonst verborgen bleibt, ist hier sachlich offengelegt und verweist auf den Möglichkeitsraum, in dem Bilder entstehen, bevor sie entwickelt werden oder eine Software die Lichtwerte interpretiert.

Die Abgüsse stammen von Kameras, die heute nicht mehr hergestellt werden, auch die Szenen in SENSIBLE OBERFLÄCHEN spielen zu großen Teilen in der analogen Ära. Gerade dadurch werden die Veränderungen im Umgang mit dem Medium im Laufe der Digitalisierung deutlich. Das Berühren oder Streichen über Bilder ist heute nicht mehr Zeichen der Sehnsucht, sondern zur alltäglichen Funktion geworden. Wir scrollen uns auf Social Media durch endlose Bilderwelten, zoomen prüfend ins eigene Portrait oder swipen potentielle Partner*innen. Den liebe- oder gewaltvollen Umgang mit dem analogen Abzug haben andere Gesten abgelöst. Das Löschen eines Bildes hat freilich eine andere Dramatik als die mutwillige Zerstörung eines Prints. Ungebrochen ist jedoch die Wirkmacht, die von Bildern ausgeht. Vielleicht noch subtiler als zuvor beeinflussen sie unser Konsumverhalten, unser Verständnis von sozialen und politischen Verhältnissen oder die Entstehung unserer Erinnerungen.